Wenn eine alleinerziehende Mutter 600 Euro mehr im Monat zur Verfügung hätte, könnte das ihr Leben verändern – ihr Alltag wäre spürbar entlastet, ein Stück Sicherheit kehrte zurück. Diese 600 Euro stehen nun auch Bundestagsabgeordneten zu – als „normale Anpassung“ ihrer Diäten. Für die einen geht es um Existenz, für die anderen um eine marginale Summe, oft nicht mehr als ein Zubrot zur ohnehin üppigen Grundentschädigung von künftig knapp 12.000 Euro brutto.
Doch hinter dieser rein rechnerischen Anpassung verbirgt sich ein strukturelles Problem, das über die Summe hinausweist: die wachsende Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung. Während Politikerinnen wie Heidi Reichinnek (Die Linke) ihr Gehalt freiwillig auf den Durchschnittslohn beschränken und den Rest spenden, fragen sich viele Menschen: Was rechtfertigt diese Erhöhung wirklich – und vor allem: jetzt?
Der Automatismus: Eine Farce der Gerechtigkeit
Die Diäten der Abgeordneten sind seit einigen Jahren an die allgemeine Lohnentwicklung gekoppelt – ein vermeintlich objektives Verfahren, das suggeriert, es handle sich um eine automatische, sachlich begründete Anpassung. Doch dieser Mechanismus wirkt zunehmend realitätsfern. Denn in Wahrheit dauern viele Tariferhöhungen, etwa im öffentlichen Dienst, nicht selten 24 Monate oder länger, bis sie vollständig umgesetzt sind. Abgeordnete hingegen erhalten ihre Erhöhung jährlich – lückenlos, sofort, pauschal.
Zudem hinkt der Vergleich mit Rentenerhöhungen. Rentensteigerungen orientieren sich nicht am Einkommen der Spitzenverdiener, sondern an der gesamtwirtschaftlichen Lage und werden politisch moderiert. Die Bundestagsdiäten hingegen steigen systematisch mit der allgemeinen Lohnentwicklung – ungeachtet der sozialen Ungleichheiten und der politischen Krisenstimmung.
Nebeneinkünfte und Unabhängigkeit – ein Paradoxon
Ein weiteres schwerwiegendes Gegenargument: die zahlreichen Nebentätigkeiten von Abgeordneten. Laut dem offiziellen Register des Bundestags verdienen viele Parlamentarier teils fünf- oder gar sechsstellige Beträge nebenbei – als Anwälte, Unternehmensberater oder Aufsichtsräte. Das Ziel der hohen Diät – nämlich die finanzielle Unabhängigkeit und volle Konzentration auf das Mandat – wird damit ad absurdum geführt. Statt sich ausschließlich der parlamentarischen Arbeit zu widmen, nutzen viele die politische Bühne als Karrieresprungbrett und Einkommensquelle.
Die Behauptung, nur ein hohes Gehalt ziehe qualifizierte Menschen in die Politik, blendet außerdem aus, dass Idealismus, Verantwortung und Gestaltungswille tragende Motive des Amtes sein sollten. Das Mandat ist kein Beruf wie jeder andere – es ist ein öffentliches Amt mit Vorbildfunktion.
Vertrauen verspielt: Der Preis der Selbstbedienung
In Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung, wachsender Armut und einer massiv unter Druck stehenden Mittelschicht ist die Art und Weise dieser Erhöhung ein Symbol politischer Ignoranz. Noch bevor die neue Legislaturperiode produktiv angelaufen ist, entscheiden die Parlamentarier – über ihre eigenen Bezüge. In keinem anderen Berufsumfeld wäre ein solches Vorgehen denkbar. Wer auf dem Bau oder in der Pflege arbeitet, kann sich nicht am ersten Arbeitstag die Lohnabrechnung selbst aufstocken.
Der Vertrauensverlust in politische Institutionen hat viele Ursachen – diese Entscheidung gehört zu den besonders wirksamen. Sie schürt den Eindruck, dass sich „die da oben“ primär um sich selbst kümmern. Das Gefühl politischer Entfremdung ist in vielen Wahlkämpfen spürbar – und wird durch solche Signale weiter verstärkt.
Ein Appell: Verantwortung statt Automatismus
Nein, Abgeordnete sollen nicht in Armut leben – und ja, ihre Arbeit ist relevant, anstrengend und oft aufreibend. Aber eine automatische, jährlich steigende Diätenerhöhung ohne Rückkopplung an reale gesellschaftliche Entwicklungen ist ein Irrweg. Sie vergrößert die symbolische Distanz zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten. Sie lässt sich in einer Zeit steigender Lebenshaltungskosten, stagnierender Reallöhne und wachsender Unsicherheit nicht rechtfertigen.
Ein fairer Ausweg wäre, Diätenerhöhungen nur mit Zweidrittelmehrheit und öffentlicher Rechenschaftspflicht zu beschließen – und sie an reale, inflationsbereinigte Durchschnittslöhne zu koppeln, nicht an abstrakte Einkommensentwicklungen.
Was es braucht, ist kein Automatismus, sondern demokratische Verantwortungsübernahme – und das Bewusstsein: Politik beginnt mit Vorbild.