Ihr Leserbrief mag Ihre persönliche Meinung widerspiegeln – was er allerdings auch zeigt, ist ein grundlegend falsches Verständnis von Arbeitskämpfen und fairer Bezahlung. Noch irritierender als Ihr Vergleich der Müllabfuhr mit etwas „Heiligem“ ist allerdings die Tatsache, dass Sie sich argumentativ an einer Unternehmenskommunikation bedienen, die in der NORDSEE-ZEITUNG als vermeintlich objektiver Artikel verkauft wurde.
Die Firma Nehlsen hat eine Pressemitteilung herausgegeben, die exakt das tut, was Unternehmen in solchen Situationen immer tun: sich als fair, kompromissbereit und missverstanden darzustellen. Wer den Text liest, könnte glatt meinen, es handle sich um ein Unternehmen, das großzügig Löhne erhöht, auf die Sorgen der Beschäftigten eingeht und von einer sturen Gewerkschaft ausgebremst wird.
Doch schauen wir uns das genauer an:
- Die „großzügige“ Lohnerhöhung von 9 %: Diese Zahl klingt vielleicht beachtlich, doch wer sich ein wenig mit der Branche beschäftigt, weiß, dass die Gehälter im Bereich der Müllentsorgung seit Jahren zu den schlechteren im Vergleich stehen. Die 9 Prozent sind nicht das Ergebnis von Großherzigkeit, sondern ein absolutes Minimum, um überhaupt noch Leute für diesen Knochenjob zu finden. Die Firma Nehlsen hat nicht aus freien Stücken erhöht, sondern weil sie musste.
- „Unsere Mitarbeiter wurden nicht für den Streik abgemahnt“: Das Unternehmen behauptet, dass niemand wegen der Streikteilnahme eine Abmahnung erhalten hat – es sei nur ein „frühzeitiger Tourabbruch“ sanktioniert worden. Glaubt wirklich jemand, dass es hier keinen Zusammenhang gibt? Das ist doch der älteste Trick in der Arbeitgeberstrategie: Streikrecht anerkennen, aber gleichzeitig Einzelne herauspicken und disziplinieren.
- „Wir brauchen einen Notfallplan“: Der Artikel – oder besser gesagt, die Pressemitteilung – beklagt, dass Streiks zu Problemen führen. Das ist kein Zufall, sondern genau der Punkt eines Streiks. Wenn Arbeitskampfmaßnahmen durch Notfallpläne ins Leere laufen, dann ist das Streikrecht nur noch eine hohle Phrase. Die Forderung nach „professioneller Kommunikation“ mit der Gewerkschaft ist in Wahrheit nichts anderes als der Wunsch, dass die Arbeitnehmer sich vorher brav anmelden, wann und wo sie streiken, damit es nicht wehtut.
- „Wir setzen auf den Dialog“: Unternehmen setzen immer dann auf „den Dialog“, wenn sie merken, dass ihnen der Arbeitskampf entgleitet. Tatsache ist: Ohne Druck gibt es keine Bewegung. Die Gewerkschaft fordert bessere Löhne, weil die bisherigen nicht ausreichen. Nehlsen tut so, als sei sie überrascht – dabei ist es genau das, was passiert, wenn man jahrelang zu wenig zahlt.
Nun, Herr Leserbriefschreiber, kommen wir zurück zu Ihrem Leserbrief. Sie beklagen, dass Sie sich „gedanklich gar nicht vorstellen können“, dass die Müllabfuhr bestreikt wird. Vielleicht liegt das daran, dass Sie es gewohnt sind, diese Arbeit als selbstverständlich hinzunehmen – erledigt von Menschen, die frühmorgens aufstehen und schuften, aber in Ihren Augen kein Recht haben, für faire Löhne zu kämpfen.
Ihr Appell an den Landkreis, „Störfaktoren zu unterbinden“, ist ein direkter Angriff auf das Streikrecht – ein fundamentales Recht in einer Demokratie. Wer das infrage stellt, stellt sich auf die Seite derer, die wollen, dass Arbeitnehmer bloße Befehlsempfänger sind. Streiks sind kein „Störfaktor“, sondern ein legitimes Mittel, um Arbeitgeber in die Verantwortung zu nehmen. Wer für bessere Arbeitsbedingungen kämpft, verdient nicht Abmahnungen oder ein Redeverbot, sondern Solidarität.
Und falls Ihnen die überquellenden Mülltonnen ein Dorn im Auge sind: Dann sollten Sie sich nicht über die Streikenden aufregen, sondern darüber, dass ihre Arbeit so schlecht bezahlt wird, dass sie überhaupt streiken müssen.