Man sitzt vor diesem Interview und denkt sich: Eigentlich wäre jetzt der Moment, in dem Journalismus zeigen könnte, wozu er da ist. Ein junges CDU-Gesicht, Wiebke Winter, erklärt im Talkformat „Nicht lang schnacken“, warum es bei der Rente angeblich fünf vor zwölf ist. Neben ihr ein Chefredakteur, der nach eigener Inszenierung „direkt“ und „norddeutsch klar“ fragen will. Und was passiert? Statt Klartext gibt es eine Pose. Statt Fakten gibt es Stimmung.
Gleich am Anfang zieht Winter die große Zahl aus der Tasche: 120 Milliarden Euro. So viel koste das, was die SPD bei der Rente plane, und da müsse man sich doch fragen, ob „wir dieses Geld haben“ und wo es überall fehlen werde, wenn man es für Renten ausgebe. Der Chefredakteur hakt nicht ein, fragt nicht nach, relativiert nicht – er lässt die Zahl wirken wie ein Schreckgespenst, das keiner mehr überprüft. So reden Ministerien in Haushaltsrunden, wenn sie soziale Leistungen kleinrechnen wollen, aber so sollte ein Interview nicht funktionieren.
Denn während auf dieser Bühne über angeblich ausufernde Kosten geraunt wird, sehen die nüchternen Zahlen ganz anders aus. Der Anteil der Rentenausgaben an der Wirtschaftsleistung ist in den letzten zwanzig Jahren nicht explodiert, sondern gesunken – von 10,5 auf 9,4 Prozent. Auch der vielgescholtene Steuerzuschuss zur Rentenversicherung ist im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung runtergegangen, von 3,4 auf 2,7 Prozent. Wäre er konstant geblieben, stünden heute zig Milliarden mehr im System. In der Talkkulisse aber bleibt die nackte Zahl „120 Milliarden“ im Raum stehen wie eine Drohung. Kein Kontext, keine Einordnung, keine Gegenfrage.
Stattdessen rutscht das Gespräch nahtlos in die nächste Erzählung: die der „geplagten jungen Generation“. Linne fragt, wie es sich anfühle, einer Generation anzugehören, der „als Steuer- und Beitragszahler viel abverlangt wird, die aber selbst im Alter wenig zu erwarten hat“. Die Botschaft ist klar: Die Jungen schuften, die Alten kassieren. Wieder kein Blick auf die Realität der heutigen Rentner. Wieder keine Nachfrage, ob das Bild überhaupt stimmt.
Dabei müsste es genau damit anfangen. Von den Menschen, die 45 Jahre gearbeitet haben, bekommt jeder Fünfte weniger als 1.200 Euro Rente. Die Durchschnittsrente für Neuzugänge lag 2023 bei 1.110 Euro – also deutlich unter dem Niveau, das man landläufig als armutsfest bezeichnen würde. Das ist der Durchschnitt, viele liegen darunter. Wer heute auf 1.200 Euro Rente kommen will, braucht einen Stundenlohn von über 17 Euro bei 45 Jahren Vollzeit. Millionen Beschäftigte liegen darunter. Dazu kommen steigende Mieten, Energiepreise, Lebensmittelkosten. Altersarmut ist keine abstrakte Gefahr, sie steht heute schon mit der Pfandflasche neben dem Altglascontainer.
In dieser Lage ist es fast zynisch, wenn eine angeblich „kritische“ Gesprächsführung so tut, als sei das zentrale Problem der Republik: dass die Jungen zu stark für die Alten schuften müssten. Der Konflikt wird als Generationenfrage inszeniert – jung gegen alt – und niemand fragt: Wer genau kassiert hier eigentlich? Wer profitiert von niedrigen Renten, von gebrochenen Erwerbsbiografien, von gedrückten Löhnen?
Winter jedenfalls redet sich aus der Ecke heraus mit der Versicherung, es gehe „nicht um Rentenkürzungen“. In Deutschland seien Rentenkürzungen verboten, sagt sie, und der Satz bleibt stehen, als wäre damit alles geklärt. Tatsächlich geht es um etwas anderes: um die schleichende Absenkung des Rentenniveaus. Das heutige Niveau von 48 Prozent soll nicht nur bis 2031 eingefroren, sondern danach weiter abgesenkt werden. Und die Junge Union wäre gern schneller, härter, konsequenter. Eine Kürzung nennt man das nicht – aber wer nach einem langen Arbeitsleben am Ende von unter 1.000 Euro leben soll, wird es sehr real als Kürzung erleben.
Genau hier wäre der Punkt gewesen, an dem ein Journalist nachhakt: „Frau Winter, wie soll ein Mensch von 994 Euro Rente leben, wenn schon 1.110 Euro heute nicht reichen?“ Stattdessen wechselt die Bühne zur nächsten Erzählung: der vom demografischen Druck. Die Babyboomer würden in Rente gehen, nur noch zwei Beitragszahler müssten einen Rentner tragen, so könne das nicht funktionieren. Wieder: keine Nachfrage, kein Vergleich, kein Blick über den Tellerrand.
Dabei liegt die Gegenprobe direkt vor der Tür: Österreich. Dort zahlen alle in die Rentenversicherung ein – auch Beamte, Politiker, Selbstständige. Die Beiträge sind leicht höher, 10,25 statt 9,3 Prozent. Für jemanden mit 4.000 Euro brutto sind das knapp 38 Euro mehr im Monat. Die Gegenleistung: im Schnitt rund 800 Euro höhere Rente als in Deutschland. Ein „Deal“, den man durchaus diskutieren könnte, wenn man es ernst meint mit Generationengerechtigkeit. Für die jungen Beitragszahler wäre es allemal sinnvoller, auf diesem Weg später eine ordentliche Rente zu bekommen, statt jetzt ein paar Euro zu „sparen“ und dann im Alter in Armut zu landen.
Doch diese Perspektive taucht im Interview nicht auf. Kein Vergleich mit Österreich, kein Blick auf Länder, die es besser machen. Stattdessen: Debatte über innere Befindlichkeiten der Union, über angebliche „Machtspiele“, über die Wortwahl von Kritikerinnen, die „Heiopeis“ sagen. Aus einem strukturellen Problem wird ein Personendrama gestrickt. Aus sozialpolitischer Analyse wird Polit-Talk.
Währenddessen schiebt sich etwas anderes still ins Zentrum: die Idee, dass die Lösung sowieso nur über private Vorsorge, Aktienrente, Finanzprodukte führen könne. Winter lobt das kapitalgedeckte Element im Koalitionsvertrag, Linne lässt das durchgehen wie eine Selbstverständlichkeit. Dass dieselbe Finanzbranche schon einmal mit Riester-Produkten groß kassiert hat – während die Sparer sich hinterher fragen durften, wo ihr Geld geblieben ist –, spielt in diesem Setting keine Rolle. Dass private Produkte bei kleinen Einkommen besonders ineffizient sind, weil Gebühren und Provisionen viel von der Rendite auffressen, wird nicht erwähnt. Dass man mit „sicheren“ Anlagen oft unter der Inflationsrate liegt und damit real Geld verbrennt, taucht nicht auf.
Stattdessen bleibt die symbolische Figur im Raum: der überlastete junge Mensch, der Wehrpflicht, Klimakrise, Transformation, Sozialreformen und am Ende auch noch private Altersvorsorge schultern soll. Winter spricht von einer „Gebergeneration“, die das alles aus Pflichtbewusstsein mitträgt, aber auch nicht überfordert werden dürfe. Linne nickt dieses Bild im Grunde ab. Nur an einer Stelle blitzt kurz so etwas wie Zweifel auf, als er formuliert, private Vorsorge müsse für junge Menschen doch wie Hohn klingen. Doch auch daraus wird kein Angriffspunkt, keine kritische Spur. Winter darf antworten, wie man es aus Parteitagen kennt – mit Verständnis, mit Pathos, mit Respekt für die Jugend – und die Frage verläuft im Sande.
Wer dieses Arrangement beobachtet, merkt: Es ist nicht nur die Politik, die hier versagt. Es sind die Medien, die das Versagen verstärken. Statt eine hochkomplexe, aber faktenreiche Debatte zu führen – über Beitragsentwicklung, Lohnquote, Produktivität, Demografie, Kapitalströme, internationale Vergleiche –, wird eine simple Geschichte erzählt:
Die Rente ist zu teuer.
Die Jungen sind überlastet.
Die Alten kosten zu viel.
Das System ist am Ende.
Wenn man diese Geschichte oft genug wiederholt, wird sie irgendwann geglaubt. Und genau darauf setzen jene Interessen, die eine starke gesetzliche Rente nicht brauchen oder nicht wollen: Arbeitgeberverbände, die Lohnnebenkosten drücken möchten. Finanzkonzerne, die Milliarden mit privaten Rentenprodukten verdienen. Politiker, die selbst komfortable Pensionsansprüche haben, die mit dem gesetzlichen System wenig zu tun haben.
Das Fatale: Viele junge Menschen, die objektiv ein Interesse an einer stabilen gesetzlichen Rente hätten, übernehmen diese Erzählung inzwischen selbst – auch, weil sie von Medien immer wieder in genau dieses Schema gedrückt werden. Die JU inszeniert sich als „Anwalt der Jungen“, während sie ihnen im selben Atemzug die Rente unter den Füßen wegzieht. Und das Talkformat, das angeblich „Nicht lang schnacken“ will, dient als Bühne, um genau diese Verschiebung zu normalisieren.
Am Ende bleibt das Bild einer Debatte, die „orwellianisch“ wirkt: Worte wie Generationengerechtigkeit, Zukunftsfähigkeit, Verantwortung werden benutzt, um ein Projekt zu bemänteln, das ganz handfest auf mehr Altersarmut hinausläuft. Wenn die SPD ein miserables Rentenniveau verteidigt und sich dafür auch noch feiern lässt, und die Union nur deshalb rebelliert, weil es ihr nicht schnell genug bergab geht, dann ist der eigentliche Skandal nicht, dass man sich streitet. Der Skandal ist, dass kaum jemand den Mut hat zu sagen, worum es tatsächlich geht: um die Entscheidung, ob diese Gesellschaft anständige Alterssicherung als Pflichtaufgabe begreift – oder als Störfaktor auf dem Weg zu höheren Renditen.
Eine ehrliche Rentenpolitik würde nicht mit Schreckenszahlen jonglieren, nicht Generationen gegeneinander aufhetzen, nicht das Ausland ignorieren, wenn es bessere Lösungen hat. Sie würde sagen: Ja, eine gute Rente kostet etwas. Aber sie ist billiger als eine Gesellschaft, in der alte Menschen Flaschen sammeln müssen und junge im Wissen leben, dass ihnen genau das am Ende auch blüht.
Solange Medien wie in diesem Interview nur Verstärker von PR-Linien sind, statt sie zu brechen, wird sich daran wenig ändern. Dann bleibt alles beim Stammtisch – nur eben mit Mikrofon, Kameras und Verlagslogo. Und genau deshalb braucht es andere Orte, an denen man noch bereit ist, die Zahlen hinzulegen, die Interessen zu benennen und die Erzählung umzudrehen. Orte, an denen nicht lang geschnackt, sondern lang nachgedacht wird.
Der Artikel erschien am Samstag (22. November 2025), unmittelbar nach Veröffentlichung des NZ-Interviews im Talkformat „Nicht lang schnacken“. Die Analyse wurde anschließend für widerdenken.de erweitert, vertieft und aktualisiert, um zentrale Fakten, Hintergründe und blinde Flecken der öffentlichen Debatte sichtbar zu machen.