Frank-Walter Steinmeier spricht zum 9. November von Mut, Vertrauen und Demokratie. Medien feiern seine Rede als „Weckruf an die Mitte“. Doch wer genauer hinhört, erkennt: Er beruhigt – statt aufzurütteln.
Beteiligung: gefordert – und zugleich abgewiesen
„Wir brauchen mehr Menschen, die den Mund aufmachen“, sagt Steinmeier. Nur: Die Menschen tun es längst – in Bürgerinitiativen, Friedensgruppen, Sozialprotesten. Sie fordern Mitsprache, Transparenz, soziale Gerechtigkeit. Doch wer zu laut fragt, gilt schnell als „undemokratisch“. Kritik wird mit Illoyalität verwechselt. Ergebnis: Beteiligungsrhetorik ohne Beteiligungspraxis.
Stärke: beschworen – Realität ignoriert
„Sind wir nicht ein starkes Land, eine gefestigte Demokratie, ein stabiler Rechtsstaat?“ Ja – aber nur auf dem Papier. Über 70 Krankenhäuser wurden zwischen 2020 und 2024 geschlossen (Deutsche Krankenhausgesellschaft). Sozialwohnungen schrumpfen, die Zahl der Tafeln steigt. Eine Politik, die soziale Infrastruktur verfallen lässt, kann Stabilität nicht glaubwürdig beschwören. Stärke entsteht durch Gerechtigkeit – nicht durch Pathos.
Demokratie: gepriesen – doch ausgehöhlt
Steinmeier warnt vor „Demokratieverächtern“. Doch der Vertrauensverlust ist hausgemacht. Gebrochene Wahlversprechen, Kriegsrhetorik, das Ignorieren demokratischer Mehrheiten – wie beim Berliner Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne, der mit 59 % angenommen, aber bis heute nicht umgesetzt wurde. Demokratie verliert, wenn Bürgerwille folgenlos bleibt – nicht durch Protest, sondern durch Politik.
Medien: Begleitung statt Einordnung
„Ein Weckruf an die Mitte“, titelte die Medien. Von einer „Rede gegen den Extremismus“, wird geschrieben. Kaum jemand fragte: Wo steht Steinmeier selbst? Als Kanzleramtschef während des Irak-Kriegs, als Außenminister bei Waffenexporten war er Teil jener Politik, die Vertrauen verspielt hat. Wenn Medien Appelle verstärken, statt Widersprüche zu benennen, verwandelt sich Journalismus in Pressebegleitung.
Gegenposition – und warum sie nicht trägt
Ja, Steinmeier will sammeln, beruhigen, versöhnen. Aber Vertrauen wächst nicht durch Appelle, sondern durch Taten. Wer Bürger ermahnt, muss eigene Fehler benennen. Diese Selbstkritik bleibt aus. Sein „Weckruf“ wirkt deshalb wie das Gegenteil: Beruhigung im Ton des Mahners.
Widerspruch ist kein Angriff. Echte Aufrüttelung beginnt, wenn Macht bereit ist, sich selbst zu hinterfragen. Solange Reden Mut beschwören, aber Systemkritik ausblenden, bleibt der Weckruf ein Schlaflied.