Wer heute die Zeitung aufschlägt, kann meinen, die Republik hänge am Schweigen von 18 jungen Abgeordneten. „Rentenrebellen schweigen“, titelte die Nordsee-Zeitung – und beschrieb die Junge Gruppe der Union als eine Art letzte Bastion gegen den Rentenkompromiss. Es ist ein Bericht voller dramaturgischer Elemente: betretene Gesichter nach Sondersitzungen, verschlossene Türen, hektische Telefonate. Die Frage, ob diese jungen Abgeordneten in der Fraktionssitzung einknicken oder standhaft bleiben, wird zur Schicksalsfrage für die Koalition stilisiert.
Doch während sich alle Augen auf dieses parteiinterne Personalstück richten, rückt die entscheidende Ebene der Rentenpolitik aus dem Blick. Das Schweigen der Jungen Gruppe ist nicht das politische Zentrum, sondern ein Ankerpunkt einer Inszenierung, die ganz woanders hinleitet – in einen Zerrspiegel, der die wahren Bruchlinien in der Gesellschaft verfälscht.
Der vermeintliche Konflikt zwischen den Generationen wird seit Wochen von Merz, der Jungen Union und willigen Medien wieder und wieder reproduziert. Die NZ folgt diesem Muster: Die Jungen fürchten zusätzliche „120 Milliarden Euro Belastungen“, Merz verlangt Disziplin, die Kanzlerrunde mahnt. Und so entsteht der Eindruck, als ginge es um unterschiedliche Visionen für die Zukunft der Rente. Doch sobald man sich von diesem politischen Theater löst, zeigt sich ein völlig anderes Bild: Weder Merz noch seine „rebellische“ Nachwuchsgruppe vertreten jene Menschen, die heute oder künftig von Altersarmut bedroht sind.
Der Streit ist kein inhaltlicher, sondern ein taktischer. Ein Gespräch über Rollen, nicht über Realitäten. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die sogenannte „Aktivrente“ anschaut – das Projekt, um das die aktuelle Debatte eingerahmt ist. Offiziell soll sie älteren Menschen die Chance geben, steuerfrei hinzuzuverdienen. In der Realität ist sie ein sozialpolitisch löchriger Entwurf, der ausgerechnet jene ausschließt, die am dringendsten auf zusätzliche Einkommen angewiesen sind.
Für all jene, die im Alter weiterarbeiten müssen, weil ihre Rente nicht reicht – darunter viele Künstlerinnen, Publizistinnen und freie Lehrkräfte – bringt die Aktivrente keinerlei Erleichterung. Sie sind steuerrechtlich Selbständige und damit von jeder Begünstigung ausgeschlossen. Genau jene, die aus purer Not weiterarbeiten, fallen also durch das Raster.
Die vielbeschworene Großzügigkeit endet damit exakt dort, wo Menschen nicht aus freien Stücken, sondern aus Zwang arbeiten. Es ist diese Verschiebung von der sozialen Realität hin zu einem technokratischen Scheinprojekt, die den Kern der aktuellen Rentenagenda sichtbar macht.
Während die NZ-Personaldebatte mühsam Spannung erzeugt, zeigt sich der tatsächliche Zweck der Reform an anderer Stelle: Die gesetzliche Rente soll weiter geschwächt und der Weg in die private Vorsorge weiter geebnet werden. Genau hier schließt sich der Kreis zwischen CDU, Merz, Versicherungswirtschaft und rhetorischem Druck. Die Aktivrente wirkt wie ein Türöffner – und nicht wie eine soziale Absicherung. Dass der Versicherungsverband GDV CDU-Parteitage finanziert, ist keine Fußnote, sondern ein Hinweis, in wessen Interessenrichtung Politik gesteuert wird.
In diesem Licht wirkt das Schweigen der Jungen Gruppe wie das, was es ist: Teil einer Erzählung, die politische Verantwortung hinter personalpolitischer Symbolik versteckt. Die Nordsee-Zeitung macht dieses Schweigen zum entscheidenden Moment eines politischen Thrillers. Aber sobald man durch diese Erzählung hindurchsieht, wird klar: Die Entscheidungen sind längst gefallen. Merz sagt es selbst, ohne Umschweife – man werde „den Gesetzentwurf so durch den Bundestag bringen, wie vereinbart“. Die Jungen können schweigen oder reden, es spielt keine Rolle. Die Weichen stehen fest.
Damit bleibt die entscheidende Frage vollständig ungestellt: Wem dient diese Rentenpolitik?
Die Antwort liegt fernab der Personaldebatte. Der angebliche Generationenkonflikt ist kein Naturphänomen, sondern ein politisches Werkzeug. Er soll Schuldzuweisungen zwischen Jung und Alt entfachen und die gesellschaftliche Debatte von der eigentlichen Konfliktlinie wegführen: der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. Wer diese Spaltung benennt, erkennt auch, warum sich private Versicherer freuen dürfen und warum die gesetzliche Rente auf Sparflamme gehalten wird. Es ist die logische Konsequenz eines politischen Kurses, der Reichtum schützt und Risiken sozialisiert.
Dass es anders geht, zeigen Länder wie Österreich, die mit einer breiteren Einzahlebasis, höheren Beitragsbemessungsgrenzen und einer echten Erwerbstätigenversicherung ein stabiles und gerechtes System aufgebaut haben. Genau das wäre der Weg, den Deutschland gehen könnte – wenn politischer Wille vorhanden wäre. Doch solange Medien Personaldramen aufblähen und politische Parteien die Debatte als Generationenkrieg inszenieren, bleibt dieser Weg unsichtbar.
Am Ende bleibt die Personaldebatte ein Ablenkungsmanöver – und zwar ein verdammt wirkungsvolles. Während die Republik gebannt auf 18 schweigende Nachwuchspolitiker starrt, wird hinter ihrem Rücken Rentenpolitik im Interesse von Vermögenden, Versicherern und politischer Kalkül geschrieben. Das Schweigen der Jungen Gruppe ist bedeutungslos; das Schweigen über die sozialen Konsequenzen ist es nicht.
Denn die eigentliche Entscheidung ist längst gefallen: Die gesetzliche Rente wird nicht gestärkt, sondern weiter ausgehöhlt. Und die Erzählung vom „Generationen-Konflikt“ dient dabei als moralische Nebelgranate. Sie spaltet Millionen Menschen, die alle dasselbe Problem haben: Ein System, das sie im Alter im Stich zu lassen droht.
Wenn Merz von „Verantwortung“ spricht, meint er nicht die Verantwortung gegenüber jenen, die 40 Jahre lang gearbeitet haben und trotzdem Angst vor Altersarmut haben müssen. Wenn die Junge Union vor „Belastungen“ warnt, meint sie nicht die Belastungen einer Pflegekraft, einer Verkäuferin, eines Alleinerziehenden. Und wenn Medien das Schweigen einiger junger Abgeordneter zum Staatsdrama aufblasen, dann meinen sie nicht die Dramen, die sich abspielen, wenn Menschen am Monatsende ihre Heizkostenabrechnung nicht zahlen können.
Man könnte es also auch so sagen: Es schweigen die Falschen. Und es reden die Falschen.
Die Frage ist deshalb nicht, ob die Jungen Gruppe morgen nickt oder nicht nickt. Die Frage ist, wie lange wir uns noch erzählen lassen wollen, dass Rentenpolitik ein technisches Detail sei – und kein Verteilungsprojekt. Wie lange wir uns einreden lassen wollen, dass die Alten den Jungen etwas wegnehmen, wo doch seit Jahrzehnten die Falschen absahnen. Und wie lange wir akzeptieren, dass ein Land reich genug ist für Rüstungsprogramme ohne Obergrenze, aber angeblich zu arm für eine stabile Altersvorsorge.
Der Konflikt, der jetzt geführt werden muss, ist keiner zwischen Jung und Alt. Es ist der Konflikt zwischen einer Politik, die Menschen absichert – und einer Politik, die Märkte absichert.
Und genau deshalb dürfen wir uns von Personaldramen nicht länger hypnotisieren lassen. Wer auf den Zerrspiegel starrt, übersieht das, was direkt dahinter passiert: Ein Umbau der Rente, der Millionen Menschen teuer zu stehen kommen wird – wenn sie nicht endlich laut werden.