Im Landkreis Cuxhaven sorgt ein ungewöhnlicher Arbeitskampf für Schlagzeilen: Das Entsorgungsunternehmen Nehlsen hat mehrere Müllwerker abgemahnt, weil sie an einem Streik teilgenommen haben. Doch ist das überhaupt zulässig? Wir werfen einen Blick auf die rechtliche Lage, die Sicht der Gewerkschaft und die möglichen Konsequenzen.
Das Streikrecht in Deutschland: Ein Grundrecht mit klaren Regeln
Das Streikrecht ist in Deutschland durch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes geschützt. Ein von einer Gewerkschaft organisierter Streik in einem Tarifkonflikt – wie der hier von Verdi initiierte Warnstreik – ist grundsätzlich rechtmäßig. Arbeitgeber dürfen Beschäftigte für die Teilnahme an einem solchen Streik weder bestrafen noch mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen bedrohen.
Insbesondere sind Abmahnungen oder Kündigungen wegen Streikteilnahme unzulässig, denn das sogenannte Maßregelungsverbot (§ 612a BGB) schützt Arbeitnehmer davor, Nachteile zu erleiden, nur weil sie ihr Recht auf Streik wahrnehmen. Zulässig ist lediglich die Anwendung des Grundsatzes „Ohne Arbeit kein Lohn“ – das bedeutet, während eines Streiks wird kein Gehalt gezahlt. Weitergehende Sanktionen sind jedoch verboten.
Warum hat Nehlsen Abmahnungen ausgesprochen?
Trotz dieser klaren Rechtslage wurden bei Nehlsen mehrere Müllwerker nach einem dreitägigen Warnstreik schriftlich abgemahnt. Die Begründung: „Arbeitsverweigerung“.
Nehlsen hatte angekündigt, die während des Streiks ausgefallenen Arbeiten umgehend nachholen zu lassen – auch mit Überstunden und Samstagsarbeit. Die Beschäftigten lehnten dies jedoch ab. Aus Sicht der Gewerkschaft war das vollkommen legitim: Ein Streik soll eine Wirkung haben – wenn die Mitarbeiter nach Streikende unentgeltlich Mehrarbeit leisten, würde die Protestwirkung verpuffen. Zudem hatte der Betriebsrat eine vom Arbeitgeber angeordnete Mehrarbeit ausdrücklich abgelehnt. Die Beschäftigten kehrten zu ihrer normalen Arbeitszeit zurück und leisteten lediglich regulären Dienst („Dienst nach Vorschrift“), was Nehlsen als „Arbeitsverweigerung“ wertete.
Sind die Abmahnungen rechtlich haltbar?
Arbeitsrechtler halten das Vorgehen von Nehlsen für unzulässig. Die Weigerung, streikbedingte Überstunden zu leisten, ist keine Vertragsverletzung, sondern fällt unter den Schutz des Streikrechts.
„Das geht natürlich nicht. Es gibt ein Maßregelungsverbot“, betonte auch Verdi-Verhandlungsführer Pit Eckert mit Blick auf die Abmahn-Drohungen. Arbeitgeber dürfen weder die Teilnahme am Streik verhindern noch hinterher Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Eine Abmahnung wegen Streikteilnahme – selbst wenn sie als „Arbeitsverweigerung“ deklariert wird – verstößt gegen das Grundrecht auf Streik und ist rechtlich unwirksam.
Sollte Nehlsen die Abmahnungen nicht zurücknehmen, könnten Gerichte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit kassieren.
Welche Folgen haben die Abmahnungen für die Beschäftigten?
Für die abgemahnten Müllwerker bleibt die Situation dennoch belastend. Eine Abmahnung ist eine offizielle Rüge, die in der Personalakte vermerkt wird. Falls sie bestehen bleibt, könnte der Arbeitgeber sie künftig als Vorwand für weitergehende arbeitsrechtliche Maßnahmen – etwa Kündigungen – heranziehen. Allerdings wären Kündigungen aufgrund der Streikteilnahme ebenfalls unwirksam, da sie gegen das Maßregelungsverbot (§ 612a BGB) verstoßen.
Die betroffenen Beschäftigten haben die Möglichkeit, die Entfernung der Abmahnungen aus ihrer Personalakte zu fordern. Falls Nehlsen sich weigert, könnten sie vor dem Arbeitsgericht auf Widerruf der Abmahnung klagen. Gewerkschaft und Betriebsrat werden die Betroffenen dabei unterstützen.
Reaktion der Gewerkschaft: „Empörend und unzulässig“
Verdi hat das Vorgehen von Nehlsen scharf kritisiert. Gewerkschaftssprecher Pit Eckert bezeichnete die Abmahnungen als „empörend“ und forderte das Unternehmen auf, die Schreiben unverzüglich zurückzunehmen. Sollte dies nicht geschehen, droht Verdi mit einer Fortsetzung und möglichen Ausweitung des Streiks.
Darüber hinaus fordert Verdi auch politische Konsequenzen: Öffentliche Aufträge sollten nicht an Unternehmen vergeben werden, die das Streikrecht missachten oder sich weigern, angemessene Tariflöhne zu zahlen.
Wie rechtfertigt Nehlsen sein Vorgehen?
Nehlsen selbst hat sich bislang nicht öffentlich zu den Abmahnungen geäußert. Allerdings hatte der Vorstandsvorsitzende Oliver Groß noch kurz vor Ende des Streiks versichert, es werde „keine Maßnahmen gegen Streikende“ geben. Umso überraschender erscheinen die ausgesprochenen Abmahnungen.
Intern begründet Nehlsen die Maßnahme damit, dass die betroffenen Mitarbeiter nach Streikende ihre Arbeitspflicht verletzt hätten, indem sie die angeordneten Extra-Schichten verweigerten. Aus Unternehmenssicht sei der Warnstreik beendet gewesen, und die Müllabfuhr hätte mittels Überstunden sofort nachgeholt werden müssen. Arbeitsrechtlich ist diese Argumentation jedoch kaum haltbar: Die eingeforderten Überstunden dienten ausschließlich dazu, die Streikfolgen zu beseitigen – eine Pflicht dazu besteht nicht. Zudem hatte der Betriebsrat die Überstunden abgelehnt, wodurch bereits formal die rechtliche Grundlage fehlte.
Welche Entwicklungen sind zu erwarten?
Der Fall könnte weitreichende Konsequenzen haben – innerbetrieblich, juristisch und politisch. Sollte Nehlsen an den Abmahnungen festhalten, könnte Verdi den Arbeitskampf fortsetzen und möglicherweise verschärfen. Eine gerichtliche Klärung ist ebenfalls wahrscheinlich: Die betroffenen Müllwerker könnten auf Entfernung der Abmahnungen klagen, und eine Entscheidung zugunsten der Arbeitnehmer wäre angesichts der eindeutigen Rechtslage sehr wahrscheinlich.
Auch auf politischer Ebene könnte der Fall Folgen haben. Verdi fordert bereits, dass öffentliche Entsorgungsaufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben werden. Diese Debatte über Tariftreue könnte an Fahrt gewinnen, wenn ähnliche Fälle Schule machen.
Fazit: Ein Präzedenzfall für das Streikrecht?
Der Streit bei Nehlsen zeigt, wie konfliktreich der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen sein kann. Er macht deutlich, dass gewerkschaftlich organisierte Streiks durch das Grundgesetz geschützt sind und Einschüchterungsversuche durch Abmahnungen keinen rechtlichen Bestand haben.
Für Arbeitnehmer ist das eine wichtige Botschaft: Die Teilnahme an einem rechtmäßigen Streik darf keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen. Gewerkschaften wie Verdi werden sich auch künftig dafür einsetzen, dass dieses Recht gewahrt bleibt. Der Fall Nehlsen könnte somit ein wichtiges Signal für den Schutz von Arbeitnehmerrechten und das Streikrecht in Deutschland setzen.