Am 19. Mai titelte die Nordsee-Zeitung: „Deutsche arbeiten relativ wenig“ – gestützt auf eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). IW-Präsident Michael Hüther sieht darin den Anfang vom Ende: zu wenig Arbeit, zu viele Teilzeitkräfte, zu großer Fachkräftemangel. Kurz: Wir sollen endlich wieder malochen. Aber Halt – stimmt das überhaupt? Oder wird hier nur ein altes Lied im neuen Gewand angestimmt?
Willkommen im Zahlentheater der Ökonomie – mit ideologischer Begleitmusik.
1. Methodisches Wunschkonzert statt wissenschaftlicher Klarheit
„Die Deutschen arbeiten wenig“ – aber relativ zu was? Die IW-Studie vergleicht internationale Arbeitsstunden, als seien sie untereinander kompatibel. Dabei ignoriert sie: In manchen Ländern zählen Urlaubstage zur Arbeitszeit, in anderen nicht. Einige erfassen nur abhängige Beschäftigung, andere auch Selbstständige. Mal geht es um Hochrechnungen, mal um Befragungen, mal um Registerdaten. Wer so vergleicht, schummelt sich eine Schlagzeile zusammen. Und die Nordsee-Zeitung? Übernimmt das fragwürdige Narrativ ohne jede Einordnung.
2. Teilzeit als Feindbild – warum eigentlich?
Fast jede zweite Frau in Deutschland arbeitet in Teilzeit. Warum? Weil sie es sich im Café gemütlich macht? Wohl kaum. Dahinter stehen strukturelle Zumutungen: fehlende Kitas, miese Arbeitsbedingungen, Überlastung, Pflegeverantwortung. Frauen leisten neun Stunden mehr unbezahlte Sorgearbeit pro Woche als Männer – laut Hans-Böckler-Stiftung. Die Realität ist nicht „weniger arbeiten“, sondern: anders, stiller, unbezahlt – und kaum gewürdigt. Teilzeit ist nicht Faulheit – sie ist das Ergebnis gesellschaftlicher Fehlplanung.
3. Die große Verschleierung: Überstunden als Schattenarbeit
Das IW spricht von zu wenig Arbeit – aber verschweigt: Über 1,2 Milliarden Überstunden werden jedes Jahr geleistet, davon 600 Millionen unbezahlt. Das ist keine Kleinigkeit, das ist ein systematischer Missstand. Und es ist ein Subventionsprogramm für Unternehmen, das auf dem Rücken der Beschäftigten läuft. Wie kann man ernsthaft von Arbeitsverweigerung reden, wenn Millionen Menschen gratis schuften?
4. Arbeitszeit ist keine Statistik – sondern eine Machtfrage
Warum arbeiten Menschen weniger? Weil sie faul geworden sind? Oder weil die Arbeitswelt sie krank macht? Frag mal in einer Klinik, einer Kita oder einer Pflegeeinrichtung. Die Leute dort gehen oft in Teilzeit – nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus Selbsterhalt. Wer durchhalten will, muss raus aus dem Hamsterrad.
Gleichzeitig wirbt die Bundesregierung für mehr Vollzeit – aber ohne mehr Lohn, ohne mehr Personal, ohne bessere Bedingungen. Das ist nicht Politik, das ist Realitätsverweigerung.
5. Der Elefant im Raum: Produktivität und Verteilung
IW-Chef Hüther warnt vor dem Verlust von 4,2 Milliarden Arbeitsstunden bis 2030. Aber fragt jemand: Wer profitiert eigentlich von den Arbeitsstunden, die heute geleistet werden?
Die Produktivität ist gestiegen – und doch stagnieren Löhne. Die Ungleichheit wächst. Die einen schuften sich kaputt, die anderen kassieren Dividenden. Diese Realität blendet das IW konsequent aus.
6. Die eigentliche Frage lautet: Wie wollen wir leben?
Was wäre, wenn wir nicht mehr arbeiten müssten – sondern nur noch so viel, wie wir wollen und können? Weniger Arbeitszeit, dafür fair verteilt. Volle Löhne für Teilzeit. Mehr Raum für Pflege, Bildung, Engagement, Erholung. Stell Dir vor: Nicht die Menschen passen sich dem Arbeitsmarkt an – sondern der Arbeitsmarkt endlich den Menschen.
Fazit: Der Wahnsinn hat Methode
Die IW-Studie ist kein wissenschaftliches Werk – sie ist ein politisches Werkzeug. Ihr Ziel: Druck machen, Vollzeit fordern, Sozialstaat zurückdrängen.
Doch wir sagen: Schluss mit dem Zahlenfetisch! Es geht nicht um „mehr Arbeit“, sondern um bessere Arbeit, gerechtere Verhältnisse und ein würdiges Leben für alle.
Weniger ist oft mehr – aber das versteht nur, wer nicht ständig die Stechuhr im Kopf hat.