Man kann sich an vieles gewöhnen – leider auch an das Schweigen. An das Verstummen jener Stimmen, die sich noch trauen, das Wort „Frieden“ in den Mund zu nehmen, ohne gleich das Etikett „naiv“, „weltfremd“ oder neuerdings sogar „brandgefährlich“ zu kassieren. Die jüngste Welle der Empörung über das Friedensmanifest einiger SPD-Politiker ist dafür ein Paradebeispiel – aber eben nur die sichtbare Spitze des Eisbergs.
Denn was mir an dieser Debatte wirklich stinkt, ist nicht nur die herablassende Art, mit der das Manifest in Kommentaren wie in der NORDSEE-ZEITUNG abgekanzelt wird – es ist die Systematik, mit der jegliche kritische Stimme in diesen Tagen neutralisiert werden soll. Das zieht sich durch Redaktionen, Regierungserklärungen und leider auch durch die Reihen jener Partei, die sich selbst so gern auf ihre friedenspolitische Vergangenheit beruft. Oder sagen wir es klarer: auf eine Vergangenheit, die sie in Wahrheit nie wirklich gelebt hat.
Das Muster ist immer dasselbe: Wer nicht „vollumfänglich“ hinter Waffenlieferungen, NATO-Rhetorik und Abschreckung steht, wird zur Gefahr erklärt. Erst moralisch, dann politisch. Was im Kalten Krieg einmal als Stärke der SPD galt – der Mut zur Differenz, zur Diplomatie, zum langen Atem – gilt heute als Schwäche. Wer wagt, über Verhandlungen zu sprechen, wird nicht als Mahner gehört, sondern als Störfaktor wahrgenommen. Und das macht mich wütend. Denn es ist kein Zufall, sondern Methode.
Das Manifest selbst wird in der aktuellen Debatte nicht gelesen, sondern zerlegt. Es wird nicht argumentativ widerlegt, sondern symbolisch vernichtet. Die Kommentatoren bedienen sich dabei einer altbewährten rhetorischen Choreografie: Zuerst wird die Initiative als „Rückfall“ in alte Zeiten etikettiert – als wären Verständigung und Friedenssicherung etwas Anachronistisches. Dann werden die Autoren persönlich entwertet – als alte Männer mit Rechnungen offen. Und zuletzt wird das ganze Projekt in den Kontext parteischädlicher Unruhe gestellt – als gefährliche Ablenkung von der angeblich einzig richtigen Linie.
Und es bleibt nicht bei diesen Kommentaren. Wer die sonstige Berichterstattung zur Lage an den Fronten liest – über Offensiven, Verteidigungslinien, neue Waffensysteme – merkt schnell: Auch dort gibt es keinen Platz mehr für die leisen Töne. Frieden ist zur Randnotiz verkommen. Und wenn doch einmal jemand danach fragt, ob es Alternativen zum Dauerkrieg gibt, dann wird nicht diskutiert – sondern gleich eingeordnet, entwertet, wegsortiert. Es ist, als hätte die politische Kultur kollektiv das Gefühl verloren für jene Momente, in denen man innehält, bevor man eskaliert.
Dass sich die SPD dabei selbst zerlegt, ist fast tragisch – wenn es nicht so absehbar wäre. Diese Partei hat in Sonntagsreden immer wieder auf Willy Brandt verwiesen, auf die Ostpolitik, auf den Kniefall von Warschau. Aber in entscheidenden Momenten hat sie sich regelmäßig vor der eigenen friedenspolitischen Tradition gedrückt. Brandt war unbequem, visionär, seiner Zeit voraus – wer ihm heute nacheifert, wird in der eigenen Partei als unbelehrbar belächelt oder öffentlich abgeräumt. Die SPD redet vom Frieden – aber sie handelt nach Machtkalkül.
Und genau das ist das Gift in der aktuellen Debatte: Nicht der Dissens ist das Problem, sondern der reflexhafte Reflex, Dissens zu beseitigen. Es wird suggeriert, dass man sich Einheit leisten muss, koste es die Diskussion. Dabei ist das Gegenteil richtig: Nur wer die Debatte aushält, ist demokratisch stark. Nur wer die Friedensfrage nicht tabuisiert, sondern in all ihrer Schwierigkeit verhandelt, verdient den Anspruch auf politische Führung.
Ich habe keine Patentlösung für den Krieg in der Ukraine – und das Manifest der SPD-Politiker ist es ebenso wenig. Im Gegenteil: Es greift zu kurz, bleibt zu vage und spart genau jene Punkte aus, die für ein ehrliches Bild dieses Krieges und seiner Ursachen notwendig wären. Wer den Frieden will, darf die Vergangenheit nicht weichzeichnen – weder die Rolle Russlands noch die Versäumnisse des Westens. Was fehlt, ist ein klares Wort zu den historischen Dynamiken, zur NATO-Politik, zur inneren Zerrissenheit der Ukraine selbst. Stattdessen bleibt vieles im Appellhaften stecken – gut gemeint, aber politisch zu dünn.
Und dennoch: Das Recht, über Frieden zu sprechen, darf nicht delegitimiert werden. Es ist möglich – ja, notwendig – das Manifest zu kritisieren, ohne die Friedensfrage selbst zu diffamieren. Mut heißt nicht, sich hinter Phrasen zu verstecken. Mut heißt, auch dann für Dialog zu werben, wenn der Wind von vorn kommt. Gerade dann, wenn es stinkt.